Die heilige Seite Eins einer Zeitung, die Visitenkarte, das Signal an den Leser, der Ausweis journalistischer Arbeit. Jüngst auf der Seite Eins der WELT, jenem Blatt, das beim Springer-Verlag das Feigenblatt der Seriosität sein soll: Eine Schicksalsnachricht! Einem Kanadier ist die Freundin weggelaufen! Mit ihr wollte er eine Weltreise machen! Das bezahlte Ticket mochte er nicht verfallen lassen. Jetzt musste eine neue Dame her. In Terrorkriegszeiten kann man nicht einfach umbuchen, also musste die Neue genau so heißen wie die Alte. Und er hat sie gefunden, die Neue. Weltweites Aufatmen.

Dass auch die anderen Springer-Blätter in einer geschlossenen Phalanx der Informations-Freiheit diese Nachricht in die gespannt wartende Welt brüllten, versteht sich. Doch selbst die FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG, die FRANKFURTER RUNDSCHAU und der Sender NTV, Medien von anerkannter Bedeutung, machten sich das titanische Ringen eines Kanadiers um die Reise- und Buchungsfreiheit zu eigen. Die berühmte FAZ, Quell und Hort publizistischer Sorgfalt, setzte sich an die Spitze der Reise-Freiheits-Bahnbrecher. Neben zwei, die Herzen schmelzenden Fotos von einem Mann und einer Frau, durfte der durchreisende Kanadier den Medien sagen: "Menschen aller Nationalitäten schrieben mir, wie gern sie reisen würden, aber aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen nicht dazu in der Lage sind." Also habe er die Wohltätigkeitsorganisation „A Ticket Forward“ gegründet, die es Menschen in finanzieller Not oder mit gesundheitlichen Einschränkungen ermöglichen will, eine Reise zu unternehmen. Ein Reisemärchen im Advent.

Sie kamen aus vielen Ländern Afrikas, die mehr als 20.000 Menschen, die seit dem Jahr 2000 vor europäischen Küsten bei ihrer Reise in ein anderes, besseres Leben den Tod fanden. Nicht selten wurde ihnen von der EU-Organisation FRONTEX die Weiterfahrt auf der See unter Gewaltandrohung verweigert. Das hat für viele von ihnen das Ertrinken bedeutet. "Wir hatten nur noch drei Tage zu fahren, da hat uns ein Polizeischiff aufgehalten. Sie wollten uns kein Wasser geben. Sie haben gedroht, unser Boot zu zerstören, wenn wir nicht sofort umkehren. Wir waren fast verdurstet und hatten auch Leichen an Bord. Trotzdem mussten wir zurück nach Senegal." Das berichteten Flüchtlinge aus dem Senegal in die Kamera des ZDF.

FRONTEX: Das ist eine bewaffnete Polizeiformation, die von der EU finanziert, die Reise von Flüchtlingen nach Europa stoppen soll. Das jährlich steigende Budget der Behörde betrug 2011 mehr als 88 Millionen Euro. Über 20 Flugzeuge, 25 Hubschrauber und 100 Boote verfügt das Kommando gegen Reisefreiheit. Diese Armada der Menschenrechtsverletzung operiert auch gern außerhalb der 12-Meilenzone und begeht faktisch Piraterie. Tatsächlich raubt sie aber nichts. - Nur das Leben. Der deutsche Innenminister de Maizière sorgt sich: "Aber die Vorstellung, dass Frontex mit den bescheidenden Mitteln, die Frontex noch hat, die Aufgaben der italienischen Marine übernimmt, die halte ich auch für unrealistisch." Der hauptamtliche Apostel der Freiheit, Bundespräsident Gauck, hat den Namen FRONTEX noch nie in den Mund
genommen.

Sorgfältig erzählen uns die Qualitätsmedien, dass im Fall der kanadischen Weltreise der Mann und die gefundene Ersatz-Freundin getrennte Hotelzimmer haben. Die Moral muss stimmen. Immerhin hat die Dame "eine ziemlich ernsthafte Beziehung mit meinem Freund. Wir sind eine Weile zusammen. Wir wollen ein Haus kaufen und haben einen Welpen“. So geht die moderne Weihnachtsgeschichte: Keine Engel aber ein Welpe in der Krippe. Und wie der Stern von Bethlehem leuchtet "A Ticket Forward" an einem Himmel, der sich auch über dem Mittelmeer wölbt, jenem Massengrab der Reisefreiheit. Die Moral muss stimmen auf der Seite Eins: Auflage macht das Süßliche, die brutale Wirklichkeit ist eher abträglich.

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"FRONTEX" ist ein barbarischer Name.
Was ist älter als "FRONTEX"?
"UNKRAUT-EX". Ein industrielles Vernichtungsmittel gegen unerwünschte Zuwanderer im Garten.
Aber der Name "UNKRAUT-EX" ist weniger lügenhaft als der Name "FRONTEX".
Denn er benennt,...

"FRONTEX" ist ein barbarischer Name.
Was ist älter als "FRONTEX"?
"UNKRAUT-EX". Ein industrielles Vernichtungsmittel gegen unerwünschte Zuwanderer im Garten.
Aber der Name "UNKRAUT-EX" ist weniger lügenhaft als der Name "FRONTEX".
Denn er benennt, was sein Anwender zu vernichten trachtet: Das "Un-Kraut". (Auch ein Begriff aus dem Wörterbuch der Barbarei. Sozusagen "lebensunwertes Leben" im Garten, das "ausradiert" gehört.)
- Noch eine Beobachtung:
"FRONTEX": Trennen Sie mal so: "FRON-TEX"! Was für ein Name für einen Textil-Discount-Filialisten!
Vielleicht können die, die die "Austreibung" durch "FRONTEX" überlebt haben sollten, dann in ihrer Heimat für "FRON-TEX" Sklavenarbeit leisten? -
Zu dem Rührstück der organisierten Presstitution von Springer und Konsorten: Für derartiges gibt es im englischen / amerikanischen Sprachraum einen trefflichen Ausdruck:
WMD - Weapons of Mass Destraction.
(Waffen der Massen-Ablenkung; Ablenkung wovon? Vom Wesentlichen, von der Wirklichkeit).

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Benny Thomas Olieni
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HUNGER & KRIEGS-"FLÜCHTLINGE" sind das späte "Erbe" der europäischen Kolonial-Mächte! Nun klemmt die EU zwischen "NÄCHSTEN-LIEBE" & FREMDENHASS! Ob das "gut gehen" kann!?

Hans Jon
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Kritisieren können Sie prima. Aber wohin sollen denn all diese Flüchtlinge? Zu Ihnen nach Hause wohl kaum.

Jens Bergner
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Armer Leute Weisheit hat keinen Kurs, sagt ein altes Sprichwort. Vieler Leute Wahrheit aber schon, sagen uns die Beiträge der Rationalgalerie im Verbund der zahlreichen Zuschriften im Rückblick des zu Ende gehenden Jahres. Danke für die...

Armer Leute Weisheit hat keinen Kurs, sagt ein altes Sprichwort. Vieler Leute Wahrheit aber schon, sagen uns die Beiträge der Rationalgalerie im Verbund der zahlreichen Zuschriften im Rückblick des zu Ende gehenden Jahres. Danke für die Weihnachtsbotschaft in barbarischer Zeit, lieber Uli Gellermann.
Danke auch für die Aufschlüsselung der Unternehmensbezeichnung "Frontex" durch Benny Thomas Olieni und Dank an Hans Jon, der uns aufzeigt, wie sich das zwischen Nächstenliebe und Fremdenhass eingeklemmte Europa jetzt schon weihnachtlich heiser singt.

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Lutz Jahoda
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Das ist ein ungewöhnliche Weihnachtsgeschichte und trotz oder vielleicht sogar wegen ihres profanen Hintergrundes sehr anrührend. Danke.

Ela Meierhoff
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Liebe Frau Ela Meierhoff,
ich möchte Sie gerne fragen, wo haben Sie
Ihren Verstand sitzen ? oder bin ich ironie-
resistent ?

Wolfgang Oedingen
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@ Wolfgang Oedingen

Mich hat die Verknüpfung der trivialen Boulevard-Reisegeschichte mit den tragischen Flüchtlingsreisen zur einer modernen, schmerzhaften Weihnachtsgeschichte emotional berührt. Gerade das Gegensatzpaar macht nachdenklich.

Ela Meierhoff
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Uli, Du bohrst mit dem Zeigefinger zurecht in der eigentlichen Wunde. Es ist ein Folgeproblem, wie denn die Flüchtlinge in Europa versorgt werden könnten, ein Folgeproblem, wie denn die verschiedenen Kulturen aufeinander wirken und so weiter. Das...

Uli, Du bohrst mit dem Zeigefinger zurecht in der eigentlichen Wunde. Es ist ein Folgeproblem, wie denn die Flüchtlinge in Europa versorgt werden könnten, ein Folgeproblem, wie denn die verschiedenen Kulturen aufeinander wirken und so weiter. Das primäre Problem, also auch das primär zu lösende ist, dass wir in Europa und den anderen barbarischen "Hochzivilisationen" auf Kosten der Länder und Menschen gelebt haben und fortgesetzt leben, deren Menschen nun hier her drängen. Und bitteschön - wir nehmen es weiter billigend in Kauf.
Wenn "mein Welpe", "mein Pferd", "meine Katze", "mein Auto", "meine innere Mitte", "meine Energieversorgung", meine, meine, meine ... immer wichtiger sind, wird es keinen Frieden geben. Klar sind die zitierten Zeitungen zum K... - aber die, die das zu Tränen gerührt lesen nicht minder.

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Manfred Ebel
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Ach wie süß! Diese Geschichte geht doch jeden abendländichen Nationalisten unter die Orangenhaut. Solche melodramatischen Momente im Zeichen des Abendsterns kann doch niemanden kalt lassen. Mir flog meine geschredderte Gans aus der Hand, als ich...

Ach wie süß! Diese Geschichte geht doch jeden abendländichen Nationalisten unter die Orangenhaut. Solche melodramatischen Momente im Zeichen des Abendsterns kann doch niemanden kalt lassen. Mir flog meine geschredderte Gans aus der Hand, als ich es las. Wem interessiert da schon, ob afrikanische Flüchtlinge Leichen an Bord hatten. Oder ob sie am verdursten waren. Schließlich kamen die ja übers Meer, da gibt es genug zu trinken. Der geübte Weihnachtsmensch möchte in Ruhe gelassen werden und mit solchen profanen Angelegenheiten, wie Flüchtlinge, welche übers Mittelmeer kommen nicht belästigt werden. Wir wollen die Freiheit des Fressens und Saufens geniessen und Geschichten von verzweifelten Kanadiern hören. Wohl dem, heilige Schei?äh Nacht.

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Moyra Mangold
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Lieber Uli,
Deine Texte lese ich auch hier in Brasilien, um dir ihre Reichweite zu dokumentieren. Dort bin ich vor einer Woche in Rio zu einer neuen Radreise gestartet bin. Deswegen wünsch´ ich dir Feliz Natal
Asta luego enfim de enero

Eckhard Dietz
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